Studie belegt sehr hohen Anteil Marburger Kommunalpolitiker mit NS-Vergangenheit noch lange in der Nachkriegszeit
Marburg 34.11.2016 (pm/red) Unter Federführung des Historikers Professor Dr. Eckart Conze haben Mitarbeiter des Seminars für Neuere Geschichte der Philipps-Universität im Auftrag der Stadt Marburg die kommunale Selbstverwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus untersucht. Fragestellung war die NS-Belastung von Magistratsmitgliedern und Stadtverordneten in Marburg von 1945 bis 1989. Die Stadtverordnetenversammlung hatte am 26. April 2013 beschlossen, eine Studie in Auftrag zu geben, Zusammensetzung und Arbeit städtischer Gremien in der NS-Zeit zu untersuchen. Der Oberbürgermeister dankte der Linkspartei, die mit ihrem Antrag seinerzeit den Anstoß für die Untersuchungen gegeben habe.
Professor Conze stellte die Ergebnisse gemeinsam mit Alexander Cramer, Sarah Wilder und Dirk Stolper vor. Zuvor hatten sie sich mehr als zwei Jahre lang mit den „verschiedenen Facetten und Aspekten der lokalen Ausprägungs- und Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus“ befasst. „Wir haben jetzt ein umfassendes Bild der nationalsozialistischen Belastungen vor und nach 1945“, betonte Conze. Und das sei eine wichtige Verknüpfung von Geschichte und Wirkungsgeschichte. „Die nur vermeintliche Stunde null stand gerade biografisch auch für Kontinuität, dadurch relativiert sich die vermeintliche Zäsur“, sagte Conze.
In ihrem Vortrag ging es den HistorikerInnen nicht zuletzt um eine Einschätzung zur Person von Walter Voß, der seit 1939 die „Gemeindeangelegenheiten leitete“ und später zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt wurde: „Er galt nach 1945 als entlastet, obwohl er 1933 Mitglied der NSDAP geworden und in der Folge der Machtübernahme für die Verfolgung der Marburger Arbeiterparteien verantwortlich gewesen war. Zusätzlich war Voß förderndes Mitglied der SS sowie des NS-Fliegerkorps gewesen und wurde mit Beginn des Zweiten Weltkriegs unabkömmlich gestellt. In der Folge wurde er mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse ausgezeichnet.“
Gerade zu Beginn der NS-Herrschaft habe Voß seine Person und Position als Bürgermeister „in eine günstige Stellung gebracht und während der gesamten zwölf Jahre zur Durchsetzung und zum Funktionieren des NS-Regimes, einschließlich seiner Verfolgungs- und Gewaltpolitik beigetragen.“ Seine Entlastung vor einer Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren resultiere aus seinem „angeblichen Einsatz für die kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner sowie seiner Verdrängung aus dem Sparkassenvorstand 1938, wodurch er finanzielle Nachteile erlitten hatte.“
Zur Ausschaltung der Arbeiterparteien aus den Parlamenten war nach den Märzwählen 1933 immer stärker auf das Mittel der Schutzhaft zurückgegriffen worden. Dieses Schicksal ereilte unter anderem die SPD-Mitglieder August Eckel, Justus Bötzel und Georg Gaßmann sowie die Kommunisten Theodor Abel, Oskar Geiler, Heinrich Schneider und Gustav Schmidt. Die Unterschrift unter die Haftbefehle leistete Walter Voß.
Die Reichspogromnacht und die folgenden drei Deportationswellen von Marburg nach Riga und Theresienstadt, so die Historikerinnen und Historiker, waren in den offiziellen Schreiben der Kommunalverwaltung zwar „nie öffentlich zur Sprache“ gekommen. Doch wurde von der Marburger Stadtleitung der Entzug jüdischen Eigentums aktiv vorangetrieben. „In personeller Hinsicht war mit SA-Brigadeführer Fritz Vielstich allerdings ein Marburger Gemeinderat unmittelbar an der Zerstörung der Synagoge in der Universitätsstraße beteiligt“, so die Studie. Weiter wurde etwa der Entzug von Eigentum nachträglich durch die Stadtoberen legitimiert.
Von 176 Nachkriegsstadtverordneten waren 54 früher Mitglied der NSDAP
In einer zweiten Studie betrachteten Professor Conze und sein Team die NS-Belastung der Marburger Kommunalpolitik nach 1945. Dabei stellten sie fest, dass von insgesamt 176 untersuchten Stadtverordneten, die aufgrund ihres Geburtsdatums bis 1928 für eine Mitgliedschaft in der NSDAP in Frage kamen, 54 Personen, also 30,6 Prozent, Mitglied der NSDAP gewesen waren. „Dieser Wert liegt deutlich über den Anteilen in den bislang primär untersuchten Landesparlamenten, insbesondere der Länder Hessen, Niedersachsen, Bremen und dem Saarland. Einzig Schleswig-Holstein erzielte einen noch höheren Wert als Marburg und gilt damit als absoluter Ausreißer“, stellten sie in ihrem Vortrag fest.
Wichtig, so Conze, sei es den Wissenschaftlern gewesen, die Personen auf mehreren Ebenen zu betrachten, sie auf funktionale Belastung zu überprüfen, etwa als Polizisten oder Beamte, und nicht zuletzt das individuelle Handeln im Dritten Reich zu untersuchen.
„In vier Fällen waren hauptamtliche Magistratsmitglieder während des Dritten Reichs Mitglieder der nationalsozialistischen Partei gewesen, namentlich Oberbürgermeister Karl Theodor Bleek und Ernst Bolz von der FDP, Dr. Georg Zellmer von der CDU sowie Hans Ballmaier von der Vereinigung unabhängiger Bürger“, heißt es in der Studie weiter. Auch Mitgliedschaften in den NS-Kampfverbänden SA, SS oder NS-Kraftfahrkorps (NSKK) waren Teil der Analyse: zwölf Personen konnte eine Mitgliedschaft in mindestens einer der Organisationen nachgewiesen werden.
Anhand von ausgewählten Biographien zeigten die Historikerinnen und Historiker, „wie sich die politische Positionierung mancher Menschen aus verschiedenen Gründen während der zwölf Jahre NS-Diktatur verändern konnte. In vielen Einzelfällen lassen sich die Jahre zwischen 1933 und 1945 eben nicht auf ein abschließendes Urteil eindampfen, sondern weisen scheinbare Widersprüche auf, die jedoch nebeneinander existieren konnten. So war es möglich, dass manche Menschen beides waren: NS-Verfolgte und Funktionäre des Regimes“, heißt es in der Studie unter anderem über den Stadtverordneten Gustav Rohr, während beispielsweise Bodo Schaub eine „aktivistische Beteiligung am Nationalsozialismus“ nachgewiesen werden konnte.
Bekanntester der untersuchten Kommunalpolitiker war Karl Theodor Bleek, der von 1946-1951 Oberbürgermeister war, zeitgleich Mitglied des Hessischen Landtags und später Leiter des Bundespräsidialamtes. Über ihn artikulierten Professor Conze und sein Team: „Aus heutiger Perspektive können wir feststellen, dass sich Karl Theodor Bleek durch das Verschweigen seiner NSDAP-Mitgliedschaft einen entscheidenden Vorteil schuf und darauf seine politische Karriere aufbaute. Die Parteimitgliedschaft an sich muss jedoch im Kontext des Dritten Reichs und nicht der Nachkriegszeit betrachtet werden. Demnach ergibt sich ein Bild, das Bleek vor allem als kompromissfähigen Beamten zeigt, der gewillt war mit dem NS zusammenzuarbeiten und wohl aus Opportunismus und wegen besserer Karrierechancen der NSDAP beitrat.“ Für eine weitergehende Bewertung seiner Person seien zusätzliche Untersuchungen notwendig, die insbesondere seine Zeit in Breslau beträfen.
Am Ende ihres Vortrags resümierten Conze, Cramer, Wilder und Stolper: „Die gerade vorgestellten Biographien, mit ihren unterschiedlichen Aspekten von NS-Belastung, haben uns vor Augen geführt, wie wichtig eine differenzierte Betrachtung dieses Forschungsfeldes ist.“ Alle Stadtverordneten und Magistratsmitglieder müssten auf ihre „individuelle Beteiligung am NS-System hin untersucht werden; die Ergebnisse bedürfen einer kritischen Einordnung“. Dabei zeige sich oftmals, dass viele Lebenswege nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema passten. Eine solche Vereinfachung würde „der Lebenswirklichkeit im Nationalsozialismus nicht gerecht werden und ein allzu einfaches Bild des Dritten Reichs zeichnen.“
In der abschließenden Diskussion kam von vielen Bürgern die Frage, warum erst so spät mit der Aufarbeitung begonnen wurde. Conze sprach von einer kollektiven Verdrängung in der Wirtschaftswunderzeit, der Blick sei nur nach vorne gerichtet gewesen. Den Wählern, so Wilder, sei die Vergangenheit Einzelner wohl auch nicht bekannt gewesen. Aber selbst in den 1960er Jahren unter dem Nazi-Opfer, SPD-Oberbürgermeister Georg-Gaßmann, habe es noch keine Aufarbeitung gegeben. Conze verwies darauf, dass die erste Nachkriegsgeneration oft auch nicht gegen persönliche Förderer vorgehen wollte. Erst heute mit dem ausreichenden Abstand sei eine umfassende Aufarbeitung gewünscht.
Nach Voß und Bleek sind Straßen in Marburg benannt. „Wir werden die rund 600 Seiten umfassenden Studien jetzt in Ruhe auswerten und in größtmöglichem Konsens mit allen Parteien in der Stadtverordnetenversammlung und den Bürgerinnen und Bürgern entscheiden, welche Konsequenzen für die Universitätsstadt Marburg zu ziehen sind“, bat Oberbürgermeister Spies alle Interessierten um Unterstützung. „Kritisches Erinnern ist in jedem Fall besser, als einfach nur zu entsorgen“, so Professor Conze.
Die beiden Studien sind auf www.marburg.de öffentlich zugänglich. Sie werden zudem in der Reihe der Marburger Stadtschriften publiziert.